Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Es wird eine lange Geschichte, und wenn ihr sie lesen wollt wird es eine in mehreren Abschnitten. Vielleicht hilft mir das Schreiben und vielleicht kann der eine oder die andere für sich daraus etwas lernen.
Es ist eine Geschichte über Internet-Sucht, eine Suche und wie man daran kaputtgehen kann.
Stellt euch eine Frau vor, Ende dreissig, eine mit „Vergangenheit“ wie man so schön sagt. Eine die ihr Leben mehr überlebt hat als wirklich gelebt, die in vielen Jahren gelernt hat, mit sich und ihren Biografien zurecht zu kommen und die inzwischen Lebensfreude kennengelernt hat.
Nennen wir sie Monika. Sie ist 38 Jahre alt, hat sich nach langen Jahren Kampf gegen Depressionen, Selbstverletzungen, dissoziativen Störungen, angeblicher Epilepsie und Ausflügen in Alkoholsucht und Liebesgier, dem Gefühl, lebens-unwert und lebens-unfähig zu sein befreit, hat mit der Vergangenheit weitgehend abgeschlossen, wie sie glaubt, und ist mittlerweile stark. Sie arbeitet in leitender Position in einem Telekommunikationsunternehmen, genießt diese Arbeit, hat im privaten Leben viele Bekannte und wenige enge Freundschaften. Sie hat fast 20 Jahre lang als Lesbe gelebt, sich als Lesbe identifiziert, in Lesbenzusammenhängen gearbeitet, im Gayviertel gewohnt. Kein Gedanke, daß sich daran je etwas ändern könnte. In Sachen Beziehung war sie nie erfolgreich, aber das beunruhigt sie nicht sehr, sie sieht persönliche Entwicklungen, leidet gelegentlich darunter, daß sie „schwierig“ zu sein scheint, erkennt aber auch daß in homosexuellen Kreisen die Sehnsucht nach Beständigkeit weiter verbreitet ist als die Fähigkeit zu dauerhaften Beziehungen. Sie hat beschlossen, daß sie keine Beziehung mehr möchte, in der Zusammenleben als Beziehungsstandard angestrebt wird.
Da sie zu ihrer eigenen größten Überraschung einen 10 Jahre jüngeren Mann über ein Internet-Forum kennen- und lieben gelernt hat, dessen Hintergrund in familiärer und gesellschaftlicher Hinsicht weitaus konventioneller als ihrer ist, beschließt sie, die Materie „heterosexuelle Lebensweisen“ näher unter die Lupe zu nehmen. Im Netz wird sie schnell fündig. Ein wenig Forenerfahrung hat sie schon gesammelt, weiß, daß sich dort gelegentlich auch „Spinner“ tummeln, im allgemeinen aber über solche Internetbekanntschaften nette freundschaftliche Kontakte geschlossen werden können. Über Gefahren denkt sie nicht nach, ahnt nicht, daß Menschen auf virtuellem Wege Einfluß auf Leben und Psyche nehmen können.
Eine „gestandene“ Frau mit Lebenserfahrung also. Nach wie vor definiert sie sich als Lesbe, deren Lebensschwerpunkt mittlerweile im Beruf liegt, die im Grunde nicht vorhatte, sich jemals wieder auf allzu verbindliche Beziehungskisten mit Zukunftsversprechen und Zusammenleben einzulassen. Ihre neue Liebe ist unerwartet, aufregend, exotisch: ein Mann mit konventionellen Ansichten, mit Familie und langjährigem Freundeskreis, ruhig, bedächtig und als Naturwissenschaftler eher logisch-strukturierten Denkweisen verhaftet – er scheint in jeder Hinsicht ein direkter Gegenpol zu ihrem chaotischen Knallfroschdasein. Monika ist irritiert, will der Sache auf den Grund gehen. Wo kann man das besser, gründlicher und mit möglichst wenig Zeitaufwand als im Internet? Eher zufällig stößt sie auf ein Familienforum, dessen Themenschwerpunkte gegliedert wie im Bilderbuch dargestellt sind: neben allgemeinen Themen sind das Flirt- und Liebesleben, gefolgt von Partnerschaft, Hochzeit, Kinderwunsch, Schwangerschaft und diversen Kindererziehungsforen, eine Rubrik Trennung ist dort ebenso vertreten wie Politik und Gesellschaft, Trauer und Trost. Ein professionell betriebenes, stark frequentiertes Forum, das wenig Heterowünsche offen läßt. Eifrig liest Monika sich dort ein, ist fasziniert und begeistert, registriert sich als „orca“ und gibt hier und da ihren Senf dazu.
Sehr ernst nimmt sie das Forum und die Leute dort nicht, fühlt sich ein klein wenig diesen „niedlichen Normalos“ mit ihren Alltagssorgen überlegen, bis sie sich's versieht ist sie binnen kurzer Zeit zu einer Art „Star“ im Forum geworden. Sie denkt nicht an Gefahren, ist offen und direkt, zeigt sich und ihre Erlebniswelt, erzählt arglos von ihrer Unsicherheit in Sachen Männerliebe, gibt nebenbei Rat oder witzelt unbeschwert mit anderen Forenbesuchern herum. Sie ist eloquent, weiß viel und gewinnt durch ihre Offenheit viele 'Freunde'. So leicht, so verführerisch!
Das Forum
Es wird Zeit, euch das Forum, in dem sich die Geschichte überwiegend abspielt, ein wenig näher vorzustellen. Daß es sich um ein Familienforum handelt, habe ich bereits erwähnt. Da es professionell betrieben wird, verfügt es über eine eigene Forensoftware, d.h. es hat in seiner Struktur womöglich Ähnlichkeiten mit dem einen oder anderen Forum, untscheidet sich aber doch in wesentlichen Punkten mit den meisten anderen: statt eines Profils hat man dort die Möglichkeit, sich unter dem registrierten Nick eine Art eigene kleine Homepage anzulegen, auf der man bis zu 10 Fotos, Links und reichlich Text hinterlegen kann. Die Registrierung erfolgt unkompliziert, man füllt ein Formular aus, bekommt einen Aktivierungslink zugemailt, den man anklicken muß und kann direkt danach sich anmelden und mitschreiben. Das Besondere: man kann dort nicht als „Gast“ posten, sondern ausschließlich als eingeloggter User – allerdings: man kann entweder unter seinem registrierten Nicknamen schreiben, der für die Leser dann in der Farbe Blau zu sehen ist, oder man kann diesen registrierten Nick einfach im Namensfeld überschreiben und stattdessen einen beliebigen Alias einsetzen, dann erscheint der Beitrag in Schwarz. So ist einerseits gewährleistet, daß man selbst immer die eigenen Beiträge (auch die „anonymen“) abrufen kann, die Forenbetreiber darüber hinaus immer feststellen können, von welchem registrierten User die anonymen Postings stammen, andererseits können „etablierte Blaunicks“ peinliche Fragen oder Beiträge, mit denen sie nicht in Verbindung gebracht werden wollen, als „???“ oder „heute in schwarz“ posten, ohne dabei ihr Image, das sie als Blaunick aufgebaut haben, zu riskieren. Muß wohl nicht erwähnen, daß diese Möglichkeit des „schwarz Postens“ weidlich für Stänkereien, Angriffe, persönliche Beleidigungen genutzt wird. Das Forum ist nicht moderiert bzw. nur sehr geringfügig. Das hat sich etwas geändert, seit die Ereignisse um Monika alias „orca“ eskaliert sind, allerdings sehen die Betreiber auch heute noch keinen Anlaß der Fürsorge einzelnen Usern gegenüber, sie entfernen lediglich Postings mit Werbeinhalten oder solche, für die sie rechtlich belangt werden können. Eine weitere Besonderheit weist dieses Forum auf: es wird nirgendwo darauf hingewiesen, daß Mehrfachregistrierungen unerwünscht seien, darin unterscheidet es sich von den meisten Foren. Wenn ein User sich unter verschiedenen Nicks mit Namen und Mailaccount registriert, kommt kein Einwand seitens der Betreiber, selbst bei Nachfragen wird die Möglichkeit der Mehrfachregistrierung eingeräumt. Das zu wissen ist für die folgende Geschichte wesentlich. Selten kam es vor, daß ein User, der zu offensichtlich beleidigend postet oder über den mehrfach Beschwerden an die Forenbetreiber eingehen, gesperrt wurde. Auch dann akzeptieren die Betreiber im allgemeinen eine Neuregistrierung des Betreffenden unter anderem Nicknamen.
Natürlich hat das Forum einen Namen, anhand meiner Ausführungen wird es vermutlich auch leicht zu finden sein, aber im Grunde ist der „Ort“ meiner Geschichte nicht mehr wesentlich, sie hätte auch in jedem anderen stark frequentierten Forum ohne Moderation ebenso stattfinden können. Hier nenne ich es der Einfachheit halber weiter „Forum“.
Orca
In der ersten Zeit ihres Forenlebens war Monika fasziniert. So „alltäglich“ die Sorgen, Nöte, Freuden und Fragen in diesem Familienforum auch waren, Monika empfand diese Welt als exotisch, so wie sie auch ihren Freund als exotisch empfand. Sie hatte sich vor vielen Jahren bereits von ihrer Herkunft befreit, war ausgebrochen aus den christlich geprägten und anerzogenen Vorstellungen, hatte in unzähligen Therapien um sich selbst gerungen und sich durch ihr lesbisches Umfeld neue Wertmaßstäbe angeeignet. War ihr das bisher nie richtig bewußt gewesen, spürte sie es nun im Zusammensein mit ihrem Freund und inmitten dieser „ganz normalen“ Forenwelt umso deutlicher. Das fing bei ganz alltäglichen kleinen Situationen an, wenn sie plötzlich unsicher war, wer die Zeche in einem Lokal zu bezahlen hatte: sie, er oder beide getrennt? Setzte sich fort in Gesprächen über die gemeinsame Zukunft: Heiraten, Kinder waren jenseits ihrer gewohnten Gedankenwelt, waren bestenfalls im Zusammenhang mit politischen Diskussionen über registrierte Partnerschaften für Schwule und Lesben je ein Thema gewesen. Im Gespräch mit ihrem Freund, der bisher immer selbstverständlich davon ausgegangen war, irgendwann zu heiraten und Kinder zu zeugen, gewannen solche Themen eine ungewohnte Dimension. Sie mußte sich damit konfrontieren, daß sie nie Kinder würde bekommen können: sie hatte sich bereits mit 24 Jahren sterilisieren lassen – damals noch unsicher in ihrer Identität als Lesbe, sich aber sicher, daß sie um jeden Preis verhindern mußte, jemals zur Gewalttäterin an eigenen Kindern zu werden. Selbstverständliche Rollenmuster im Zusammensein von Mann und Frau, die sie vor langen Zeiten ad acta gelegt hatte, wurden nun wieder zu neuen, hinterfragbaren Verhaltensmodellen. So locker-humorvoll sie darüber mit ihrem Freund auch sprechen konnte, mehr und mehr suchte sie auch nach Antworten im Forum. Bereits zu Anfang ihrer Beziehung hatte ihr Freund sie seinen Eltern vorgestellt, die in der Wohnung neben seiner wohnten. In Panik geriet sie, als er selbstverständlich davon ausging, daß sie Weihnachten gemeinsam mit ihm, seiner Familie und anschließend mit seinen Freunden verbringen würde. Längst abgelegte Selbstverständlichkeiten, die sie all die Jahre nahezu problemlos hatte vermeiden können, wurden nun wieder zu ungeliebten Themen. Natürlich hatten auch Lesben Eltern – aber Monika war nie damit konfrontiert worden, sie selbst war in öffentlichen Einrichtungen aufgewachsen und ihre früheren Geliebten hatten durchweg keinen Kontakt zu ihren Eltern mehr gehabt.
Und der Umstand, nun mit einem Mann in einer fast konventionellen Beziehung zusammen zu sein, brachte für sie den längst beiseitegelegten Kinderwunsch wieder zum Vorschein.
Über all diese Themen konnte sie sich im Forum austauschen. Gab sie auf ihre gewohnte entspannte Art Ratschläge in Liebesdingen und Partnerschaftsproblemen einerseits, so fragte sie andererseits immer wieder um Meinungen und Tipps in Sachen „Heteroleben“. Man amüsierte sich über und mit dieser „orca“, gewann schnell Vertrauen in ihre Vorschläge und analytischen Fähigkeiten, mochte ihre lockere Art, mit Provokationen umzugehen und nach kurzer Zeit verging kein Tag mehr, an dem nicht etliche ihrer Beiträge mit vielen Postings beantwortet wurden. Wer sich in der Forenwelt ein wenig auskennt, wird feststellen, daß es immer einige wenige polarisierende User in einem Forum gibt, deren Threads – ganz egal, wie banal die Thematik auch sein mag – mit vielen Antworten „belohnt“ werden. So erging es auch Monika alias orca. Nach wenigen Wochen Aktivität im Forum war sie eine der populärsten Userinnen, um deren Aufmerksamkeit sich die meisten anderen rissen.
Monika genoß diese Aufmerksamkeit, fühlte sich pudelwohl darin, fand indes dabei nichts Ungewöhnliches. Trotz all der Jahre, in denen sie mit ihren psychischen Problemen zu kämpfen gehabt hatte, trotz des Umstandes, daß sie weder „schön“ noch schlank war, geschweige denn in irgendeiner Form „modebewußt“, war sie es von Jugend an gewöhnt, in Schulklassen, in Kliniken und Heimen immer zu denjenigen zu gehören, die respektiert und gemocht wurden und durch ihre verbalen Fähigkeiten eher tonangebend als unscheinbar wirkten. Auch wenn ihr vieles im Zusammenhang mit Familienproblemen nicht vertraut war, konnte sie zu Themen wie Mißbrauchserfahrungen, Partnerschafts- und sexuellen Problemen, Religion, Politik, Freundschaft usw. „mitreden“ und überzeugen. „Schwarze Stänkerer“ - also Postings, die anonym geschrieben wurden, beantwortete sie mit Gelächter und lustigen Links, in der Anfangszeit gab es kaum je einen Beitrag oder User, der sich negativ gegen sie oder einen ihrer Beiträge geäußert hätte.
Alles war perfekt, fand Monika, und wenn andere User sich in die Wolle kriegten, gegenseitig beschimpften oder gegen einzelne mobbten, nahm sie das verwundert zur Kenntnis, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen. Schließlich war es jedem selbst überlassen, wie intensiv er sich in einem Forum engagierte und wie ernst er geschriebene Worte von wildfremden Leuten nahm, fand sie.
In dieser Zeit trafen ein paar äußere Umstände zusammen, die Monika als belastend, aber keineswegs besorgniserregend empfand. Neben der immer noch neuen, aufregenden Liebe zu ihrem Freund, den sie über 500 km hinweg nur alle 14 Tage sehen konnte, begannen finanzielle Schwierigkeiten in der Firma, in der sie angestellt war, spürbar zu werden. Das Arbeitsklima wurde schärfer, die Gehälter kamen unregelmäßiger, Monikas ohnehin schon 50 bis 60 Arbeitsstunden in der Woche nahmen weiter zu. Das störte sie nicht sehr, da ihre engen Freunde ohnehin weit weg wohnten und ihr bisheriges Gay-Umfeld so nach und nach wegbröckelte seit Bekanntwerden ihrer neuen Liebe zu einem Mann. Sie genoß es, sich in ihrer Arbeit zu engagieren und holte sich ihre emotionalen Bedürfnisse im Forum. Für bedenklich hielt sie diese Entwicklung nicht, hatte sie doch ein reales Leben. Daß dieses reale Leben immer weniger Raum einnahm und zunehmend unerfreulich wurde, realisierte sie nicht. Zwar war sie nach wie vor verliebt, zwar mochte sie nach wie vor ihre Arbeit, aber Austausch über private Nichtigkeiten fand sie fast nur noch im Forum.
In dieser Situation nahmen ihre Brüder, ihr Onkel und ihre Tante Kontakt mit ihr auf. Das schockierte Monika, sie hatte alle Kontakte zu Familienmitgliedern seit annähernd 20 Jahren abgebrochen. Diese plötzliche Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, insbesondere ihren Brüdern, für deren erste sexuelle Gehversuche sie als Kind hatte herhalten müssen, brachten sie aus der Fassung. Sie reagierte, wie sie das immer getan hatte, wenn ihr etwas emotional zu schaffen machte: sie lenkte sich ab. Noch mehr Arbeit, noch mehr Forum. Ganz allmählich kamen leise fragende Beiträge von Mitusern: schläfst du denn nie? Wie schaffst du das, zu jeder Tages- und Nachtzeit im Forum aktiv zu sein? Monika-Orca lachte darüber. Sie schaffte das!